Wahnsindien - Der Reiseblog

Welches Instrument fährst du?

Nun ist das Gros versammelt. Gerade schlief noch alles, plötzlich, wie ein Blitz, beginnt das Chaos. Das Orchester hält sich nicht damit auf sich einzustimmen, dröhnt drauf los. Eine lärmende Masala mit unzähligen Musikern, in welcher jeder seine eigene Melodie spielt, am Ende, wie durch ein Wunder, eine heilwegs geordnete, stetig fließende Melodie entsteht.

   Fahrradrikschas und Scooter ziehen schellend, hupend ihre dreirädrige Spur. Autos tröten, als wollten sie sich selbst antreiben, Lastwagen und Busse lärmen drohend vorüber, schieben die Kleinen vor sich her. Rinder kreuzen gelangweilt die Straße, Kamele ziehen scheinbar mühelos, aber schaumschlagend, die größten Lasten. Eine Herde Wasserbüffel zerteilt röhrend die Massen, von wem auch immer gejagt.

Schneeweiße Zebus trotten vorbei, mit Augen, als würde vor der Arbeit noch schnell der Lidstrich gezogen. Schönheiten auf dem Laufsteg, wären da nicht die schweren Gabeln auf den Genickbuckeln. Die hölzernen Karren knarren und quietschen, die Räder rattern, sie werden seit Generationen durch das Treiben gezerrt und von Rind zu Rind weiter vererbt.

   Ab und an ragen Elefanten aus dem unendlichen Strom, mit breiten Stirnen voller Kreidezeichnungen. Wippende, leuchtende Köpfe, mit aufrecht stehenden Rüsseln, tanzenden Kobras gleich. Unaufhaltsam vorwärts drängend versuchen sie sich den Weg frei zu trompeten. Keiner springt zur Seite. Hoch oben schlummert manch Mahut seelenruhig unterm Baldachin, wie ein sorgloser Kapitän auf seinem Hochseekahn. Unbeeindruckt umfließt der Verkehr die massigen Körper.

Gelbe Dächer Fünfziger-Jahre-Taxis blinken im Verkehrsstrom, Fahrradfahrer klingeln sich durch Lücken, Affen springen keifend von Dach zu Dach, Schweinerudel grunzen um die Ecke, Ziegen meckern vorbei, Tauben suchen flatternd freie Stellen zum Landen.

Tausende Menschen lärmen hustend kreuz und quer. Arbeiter, fliegende Händler, rollende Saftpressen, wohlhabendere Frauen im Mercedes chauffiert, Kinder in Rikschas, auf dem Weg zur Schule, den Strom durchquerend, Sadhus in roten Gewändern, Buddhisten, stolze bärtige Sikhs. Schwarz-weiße Nonnen bilden einen seltsamen Kontrast im Bunt, bis sechs Männer mit einen in orangefarbenes Tuch gewickelten Toten über ihren Köpfen dieses Bild queren und den Blick magisch anziehen.

Bis er an dem Kind, auf dem meterbreiten erhöhten Bordstreifen, der die Fahrspuren trennt haften bleibt. In Lumpen, eins mit Dreck und Staub, liegt es unter voller Sonnenglut wie auf einer Insel mitten im Verkehrsstrom, in all dem Lärm und schläft.     Aussätzige, Leprakranke strömen vorbei, verstoßene, kahlgeschorene Frauen, Zigeunerinnen in ihrer blinkenden roten Pracht und Bettler, Bettler, Bettler.

Eine Wahnsinnskomposition, die irren Kapellmeister Zeit und Hitze gehen aufs Ganze. Doch da stimmt etwas nicht. Allein ist alles unmöglich zu schaffen, jemand muss im Hintergrund die Schalter betätigen. Hindus haben Millionen Götter, für jede Situation einen, warum also nicht auch einen Gott des Verkehrs? Es muss so sein, ansonsten gäbe es Minute auf Minute Unfall auf Unfall.

Jeder landesfrische Tourist, der in Delhi, Bombay, Madras oder Kalkutta zögernd aus der Halle des Flughafens tritt, sich zum ersten Mal in eine Fahrradrikscha setzt und in diese Oper zum Anfassen stürzt, wird seinem Kreislauf zu reden müssen. Denn Inder mögen zwar alles in allem die Ruhe weg haben, aber wenn sie einmal auf Rädern sitzen, will jeder der Schnellste sein!

   Selbst eine halbtägige Chaostour in Lärm, gar eine Stunde Staub, Lärm, Sonnenglut, befördert dich flugs ans Ende deiner Nervenbahnen. Zumindest an ein Ziel, wenn du durchhältst. Dann kannst du abends in einem Zimmer auf der Matratze kleben und abwesend zum Deckenventilator stieren. Unablässig wedelt er dir die Bilder des Tages ins Gesicht, damit du sie nicht vergisst.

   Da herrscht keine Gefahr. Bist du aus der Oper geflohen, kreischt sie doch stundenlang im Schädel weiter. Unwichtige kleine Sachen, von keinem gerufen, blasen sich zu gewaltigen Thesen auf, hecheln schwitzend durch die Gänge.

Du hast keine Macht mehr über das Fahrzeug, du hantierst am Lenkrad, es steuert mal da, mal dorthin. Bald wirfst es verzweifelt durch das Fenster.

Und nach Stunden, meist kurz vor dem Morgengrauen, dann wenn du schon nicht mehr darauf hoffst, längst aufgegeben hast, hat der Meister ein Einsehen und legt den Taktstock weg.

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Jaipur, Bundesstaat: Rajasthan